Die Debatte um die Unterbringung von Flüchtlingen und eine intelligentere Steuerung bei der Verteilung der Flüchtlinge ist im vollen Gange. Welche Aspekte spielen bei der Verteilung eine Rolle? Und ist die Anwendung des Königssteiner Schlüssels bei der Verteilung angebracht?
Viele Diskussionen wurden über die Flüchtlingskrise und die Aufnahmekapazitäten Deutschlands geführt, viele Streitgespräche und Talkshows über Aufnahmegrenzen gehalten. Mittlerweile sind über eine Million Flüchtlinge ins Land gekommen und viele werden erstmal bleiben. Noch mehr als die Frage nach Obergrenzen drängen sich daher pragmatische Fragen nach den Menschen auf, die nun da sind und dauerhaft in Deutschland leben wollen. Wo bringt man all diese Menschen unter? Wer kümmert sich um sie? Und wie integriert man eine Masse?
Bei der Beantwortung dieser Fragen lohnt sich ein Blick auf den angewendeten Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge. Hierbei kommt in Deutschland der so genannte Königssteiner Schlüssel zum Einsatz. Ursprünglich wurde das System entworfen, um die Kosten für überregionale Forschungseinrichtungen auf die einzelnen Bundesländer zu verteilen. Heute erfüllt es die verschiedensten Zwecke, ist Grundlage für die Berechnung der Höhe von Förderungen im Krankenhaussektor ebenso wie für die Lastenverteilung im Falle einer völkerrechtlichen Sanktionierung Deutschlands. Trotz all dieser Funktionen ist das Prinzip denkbar einfach: die Verteilung von Geldern ebenso wie Flüchtlingen erfolgt zu einem Drittel nach der jeweiligen Bevölkerungszahl und zu den anderen zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen. Nordrhein-Westfalen kriegt demnach 21% der Gelder des Krankenhaus-Strukturfonds, müsste 21% der Geldstrafe bei einer völkerrechtlichen Sanktion tragen und 21% der Asylsuchenden aufnehmen.
Knapp gesagt: Flüchtlinge werden in Deutschland also ähnlich wie Bußgelder auf die Bundesländer verteilt. Neben dem Königssteiner Schlüssel werden zudem noch offene Kapazitäten in den Erstaufnahme-Einrichtungen berücksichtigt sowie ob die Außenstellen des BAMF im Bundesland, die auf bestimmte Ländergruppen spezialisiert sind, überhaupt Anträge aus dem Herkunftsland des Asylsuchenden bearbeiten. Die Art der Verteilung von Flüchtlingen hat immer wieder zu Kritik geführt. Erst im Februar diesen Jahres veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft einen Bericht, in dem es die Verteilungspraktiken aufgrund ihrer mangelnden Effizienz und Anpassung stark kritisierte. Stattdessen sollte die Verteilung anhand von Kriterien wie verfügbarem Wohnraum, Chancen auf dem Arbeitsmarkt und Plätzen in Schulen und Ausbildungsbetrieben erfolgen. Nur so könne eine Chance auf nachhaltige Integration gewährleistet werden.
Tatsächlich hat NRW im Mai 2016 56862 Asylanträge entgegengenommen und liegt damit vor allen anderen Bundesländern, obwohl es mit 3,6 % gemeinsam mit Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein eine der niedrigsten Leerstandsquoten in Deutschland hat. In Mecklenburg-Vorpommern, wo über 6% des Wohnraumes leer stehen, wurden im Mai hingegen nur 4822 Anträge gestellt – über 50.000 Anträge weniger also. Eine Diskrepanz, die sich auch in anderen ostdeutschen Bundesländern beobachten lässt.
Verena Schulte-Sienbeck vom Sozialamt in Münster sieht daher ebenfalls ein zentrales Defizit bei der Verteilung von Flüchtlingen: „Wir bewältigen die uns zugeteilte Anzahl so gut es geht, doch die Kapazitäten – gerade was Wohnraum angeht – sind sehr knapp.“
Durchschnittliche Anzahl der Asylanträge in den Bundesländern
Leerstandsquote in den Bundesländern
Das führt unter anderem dazu, dass viele Asylbewerber, auch Familien, monatelang in Erstunterkünften mit Schlafsälen, in denen bis zu 100 Personen schlafen, untergebracht sind. „Es fällt schwer, Fuß zu fassen, wenn man nicht einmal ein richtiges Zuhause hat“, berichtet die ehrenamtliche Helferin Sabine Ertel. Und wenn schließlich eine richtige Unterkunft gefunden wurde, liege die oft Kilometer entfernt. „Alle sozialen Kontakte, die in den ersten Monaten geknüpft wurden, reißen dann ab. Viele müssen dann nochmal neu anfangen.“
Doch nicht nur der Wohnraum ist ein Einflussfaktor, der Ankommen und Integration erleichtern kann. Ebenso geht es darum, Flüchtlingen Zukunftsperspektiven zu bieten. Auch hier zeigen sich die Schwächen des Königssteiner Schlüssels: Nordrhein-Westfalen nimmt die meisten Flüchtlinge auf, hat aber mit 8% eine Arbeitslosenquote über dem Bundesdurchschnitt und gleichzeitig im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die wenigsten Schulen deutschlandweit. In Bayern, wo ebenfalls viele Asylbewerber untergebracht sind, sieht der Arbeitsmarkt zwar besser aus, auch hier mangelt es jedoch an Schulen. Brandenburg hingegen, wo die Schul-Dichte mit Abstand am größten ist, nimmt hingegen noch nicht einmal halb so viele Flüchtlinge auf.
Arbeitslosenquoten in den Bundesländern (Jahresdurchschnitt 2015)
Anzahl der Schulen pro 1000 Unter-20-Jährigen
Ein weiterer Faktor, der bei der Verteilung außer Acht gelassen wird, ist zudem die Frage, inwieweit die einzelnen Länder finanziell überhaupt in der Lage sind, eine große Zahl von Menschen aufzunehmen und diesen die entsprechenden und notwendigen Leistungen zukommen zu lassen. Eine Blick auf den Schuldenstand der Bundesländer zeigt dabei, dass auch in dieser Hinsicht eine starke Belastung Nordrhein-Westfalens falsch ist: denn das bevölkerungsreichste Bundesland hat bundesweit auch die meisten Schulden. Aufgrund dieser Tatsache entstehen auch Zweifel, ob gerade Nordrhein-Westfalen finanziell in der Lage ist, für die große Zahl zugewiesener Flüchtlinge aufzukommen. Denn auch hier wird mit Betrachtung der Deutschlandkarte deutlich, dass im Bundesvergleich die neuen Bundesländer eher weniger Schulden besitzen – also die Bundesländer, die am wenigsten Flüchtlinge aufnehmen.
Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist zuletzt die medizinische Versorgung in den Bundesländern. Nach monatelanger, anstrengender Flucht sind viele Flüchtlinge am Rand ihrer Kräfte und benötigen eine entsprechende medizinische Behandlung. Gleichwohl Deutschland ein insgesamt gutes und funktionierendes Gesundheitssystem besitzt, sind auch hier leichte Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu beobachten. Betrachtet man die Anzahl der Krankenhausbetten je 1000 Einwohnern, hinken Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg im Ländervergleich eher zurück. Obwohl also die medizinische Versorgung bzw. das Angebot an Betten in anderen Ländern größer ist, nehmen diese Länder dennoch mehr Flüchtlinge auf. Ein konkreter Vergleich in Zahlen: wogegen in Baden-Württemberg durchschnittlich nur 530 Betten je 100.000 Einwohner verfügbar sind, sind in Thüringen durchschnittlich 750 Betten verfügbar, also knapp 200 Betten mehr.
Schulden der Bundesländer (Stand: Dezember 2015)
Anzahl der Krankenhausbetten je 100.000 Einwohner
Die Flüchtlingsverteilung sei ein hochkomplexes Problem, so Schulte-Sienbeck, bei dem es viele Einflussfaktoren zu berücksichtigen gebe. „Zumindest eine intensivere Beschäftigung mit Alternativen zum Königssteiner Schlüssel wäre wünschenswert. Das könnte manche Kommunen sehr entlasten.“
Denn viele Faktoren, die eine Integration erleichtern könnten, bleiben im Königssteiner Schlüssel unberücksichtigt.
Dies beantwortet mit Sicherheit nicht einmal annähernd alle Fragen und Probleme, die sich im Zuge der Flüchtlingskrise stellen. Ob und wie man eine solche Anzahl an Menschen integrieren kann, wird sich erst langfristig zeigen. Doch eine kritische Betrachtung des Königssteiner Schlüssels legt zumindest einen Gedanken nahe: gute und gelingende Integration fängt schon bei der Verteilung an.